Innenraum eines Elektrofahrzeugs

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Sind 1000 Kilometer Reichweite genug?

Reichweitenangst, sehr geehrte Leserinnen und Leser, ist der häufigste Grund, warum sich Mann und Frau heute noch gegen ein E-Auto entscheiden. Und dies, obwohl gemäss dem Bundesamt für Statistik im Durchschnitt gerade mal 36,8 Kilometer pro Tag zurücklegt werden. Nun gibt die Autoindustrie Gegensteuer. 1000 Kilometer an einem Stück gefällig? Ganz ohne «Tankstopp»? Welcome to Mercedes EQXX, NIO ET7 oder dem «Sonnenkönig» Lightyear Zero. 

Ich für meinen Teil gehörte ja nicht gerade zu den Langdistanzfahrern. Zürich–Genf, gerade mal 277 Kilometer, ist für mich bereits eine kleine Tortur. Mein Husarenstück ist Zürich–Rom, immerhin 853,82 Kilometer. Mit einem Tankstopp und gefühlten 10 Espressopausen. Aber 1000 Kilometer an einem Stück? Ohne Tankstopp? Das kriegt kein normaler Verbrenner hin. Einigen innovativen E-Autos ist aber genau das gelungen. 

 

1. Vision EQXX von Mercedes

Da wäre zum Beispiel der Vision EQXX von Mercedes mit sagenhaften 1203,5 Kilometern, um ganz genau zu sein. Von Stuttgart nach Silverstone, inklusive einiger Extrarunden auf der legendären Rennstrecke. Alles ohne einen einzigen Ladestopp. Der Durchschnittsverbrauch lag bei 8,3 kWh. Die reine Fahrzeit betrug 14,5 Stunden, die Durchschnittsgeschwindigkeit immerhin 83 km/h. Kosten für den kleinen Ausflug? Lächerliche CHF 21.30 (falls Sie Ihren Riesenakku in der Stadt Bern zum ewb-Ökostrom-Niedertarif vollgeladen hätten). Nun ist das Forschungsfahrzeug EQXX mit seinen 1,8 Tonnen und einem weltmeisterlichen Strömungswiderstandskoeffizienten (cw), umgangssprachlich auch Windschlüpfrigkeit genannt, von 0,17 nicht jedermanns Sache. Auch das Preisschild des EQXX dürfte heftig ausfallen. Aber es geht beim EQXX auch nicht um kommerziellen Krimskrams. Mercedes wollte mit dem EQXX die Grenzen des Machbaren verschieben und einen Blick in die Zukunft werfen. Das ist dem Konzern aus Stuttgart eindrucksvoll gelungen.

2. Lightyear Zero

Einen etwas anderen Weg geht der «Sonnenkönig» Lightyear Zero der holländischen Firma Lightyear. Die gut 5 Meter lange Flunder ist das erste serienreife Solarauto der Welt. Die 5 Quadratmeter grossen Solarzellen auf Haube und Dach sollen zusätzliche Reichweite liefern – wobei diese bei prallem Sonnenschein lediglich 40 bis 50 Kilometer pro Tag beträgt, im Winter und bei Regen sind es deutlich weniger. Den Rest muss die 60-kWh-Batterie leisten. Bei einer durchschnittlichen Fahrleistung von deutlich weniger als 100 Kilometern pro Tag könnte der Lightyear Zero also rein theoretisch 1000 Kilometer ohne Ladestopp leisten. Wobei stolze Lightyear-Zero-Besitzerinnen und -Besitzer das Fahrzeug nicht in der Garage parkieren sollten und auf viel Sonnenschein hoffen müssen. Ansonsten werden aus den erwähnten 1000 Kilometern ganz schnell nur noch die batteriegetriebenen 500 Kilometer. Wie die auf dem Fahrzeug verbauten Solarzellen auf Hagel reagieren, konnte uns bis dato übrigens noch niemand erklären. Ganz günstig ist der Lightyear Zero auch nicht. Mit CHF 300 000.– kostet der «Sonnenkönig» deutlich mehr als jeder Tesla Model S, Lucid Air oder Mercedes EQS. Falls Sie trotzdem zum exklusiven Kreis der Lightyear-Zero-Käuferinnen und -Käufer gehören wollen, sollten Sie sich aber beeilen. Denn mehr als 946 Exemplare – das sind die ersten drei Stellen, wenn man ein Lichtjahr in Kilometer umrechnet – werden nicht gebaut. 

3. NIO ET7

Wie immer bei Elektroautos lohnt sich ein Blick nach Osten. Was die Chinesen an neuen E-Autos und Batterietechnologien auf den Markt bringen, ist fast schon schwindelerregend. Mit dem NIO ET7 blasen sie zur Attacke auf Tesla, Mercedes oder Porsche. Die Ausführung mit der 150-kWh-Monsterbatterie soll gemäss dem Konzern ebenfalls die 1000-Kilometer-Marke knacken. Wann das Reichweitenmonster auf die Strasse kommt, ist allerdings noch nicht bekannt. In der Zwischenzeit möchten Sie sich mit dem 100-kWh-Version begnügen? Diese gibt es zwar auch noch nicht, aber bestellen dürfen Sie schon mal. Mit einer Reichweite von 700 Kilometern, einer Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 3,9 Sekunden, Allradantrieb und Privilegien, die sich sehen lassen können (lebenslange Garantie, kostenlose Wallbox für zu Hause, lebenslanger Lade-Service, lebenslange kostenlose Batteriewechsel, lebenslange Mobilitätsgarantie und lebenslange Online-Funktionalitäten), dürfte der NIO ET7 ein ziemlich attraktives Paket bieten. Das Basismodell mit 100-kWh-Batterie soll es ab Ende 2022 für umgerechnet ca. CHF 70 000.– geben. 

 

Porträtbild von Lex Hoefsloot, CEO Lightyear
Wir nehmen den Fahrerinnen und Fahrern endgültig die Reichweitenangst.
Lex Hoefsloot
CEO Lightyear

Macht die Reichweitenbolzerei Sinn?

Nein und ja. Natürlich braucht kein normaler Mensch 1000 Kilometer Reichweite. Wer will schon von Lugano nach Hamburg in einem Stück ohne Pause fahren? Aber um das geht es auch gar nicht. Mercedes, Lightyear oder NIO zeigen nur, was möglich ist und was die Zukunft bringen könnte. Wir stehen bei der Entwicklung von Elektroautos, neuen Batterietechnologien und E-Mobilitätskonzepten erst am Anfang einer faszinierenden Reise. Vieles ist noch unbekannt und wird sich in den nächsten Jahren weisen. Reichweitenangst dürfte aber schon in einigen Jahren ziemlich sicher aus unserem Wortschatz verschwinden.