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Braucht es ein Recht auf Laden, Frau Sommaruga?
Über 56 % der Schweizerinnen und Schweizer würden in den nächsten drei Jahren sehr wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich ein Elektroauto kaufen. Wenn sie zu Hause auch tatsächlich laden könnten.
Am 16. Mai 2022 haben Vertreterinnen und Vertreter der Automobil-, Elektrizitäts-, Immobilien- und Fahrzeugflottenbranche sowie von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden die neuen Ziele der Roadmap Elektromobilität unterzeichnet. Natürlich durfte auch die Unterschrift von Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga nicht fehlen. Damit gilt definitiv: Die seit 2018 laufenden Aktivitäten werden verstärkt und bis 2025 verlängert.
Das sind gute Nachrichten sehr geehrte Leserinnen und Leser. Aber reicht es, damit die Schweiz bei der Elektromobilität aufs «Strompedal» drückt? Es lohnt sich, einen Blick auf die drei Hauptziele der Roadmap 2025 zu werfen:
Der Anteil von 50 % bei Neuzulassungen bis 2025 ist, mit Verlaub, nicht wirklich ambitioniert. Bereits im Dezember 2021 lag die Schweiz bei 33 %, Deutschland sogar bei 35,7%, und von Norwegen mit über 70 % – zugegebenermassen ein Spezialfall in Europa – wollen wir schon gar nicht reden. Und gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie würden 56 % der Schweizerinnen und Schweizer in den nächsten drei Jahren sowieso ein Elektroauto kaufen. Zudem hat das im Juni dieses Jahres von der EU angekündigte Verbrenner-Verbot ab 2035 das Ende des Otto-Motors definitiv eingeläutet.
20'000 allgemein zugänglichen Ladestationen? Gut gemeint, aber kaum wirksam. Es gibt bereits rund 8000 solcher Ladestellen. Damit liegt die Schweiz bei Stromtankstellen pro 100'000 Einwohner auf dem 3. Platz. Ausserdem finden heute über 80 % der Ladevorgänge zu Hause und nicht an öffentlichen Ladestationen statt, Tendenz steigend. Und wer hat schon Lust, bis zu 65 Rappen pro kWh zu bezahlen, wenn es auch ganz bequem zu Hause über Nacht geht, für mickrigen 17 Rappen pro kWh? Mann und Frau rechne!
Hier kommen wir dem wahren Bedürfnis von stolzen E-Auto-Besitzerinnen und -Besitzern näher. Denn ohne Laden zu Hause, oder zumindest am Arbeitsort, ist das Elektroautofahren gelinde gesagt kompliziert. Hinter dem kryptischen Titel «Nutzerfreundlich und netzdienlich laden» der Roadmap 2025 verstecken sich komplizierte Dinge wie bidirektionales Laden, Laternenladen oder ein nationales Förderprogramm für Ladeinfrastrukturen. Gut gemeint und alles Aktivitäten, die ihre Berechtigung haben. Was aber fehlt, sehr geehrte Frau Sommaruga, ist «the one and only activity», die praktisch im Alleingang die Zahl von Elektroautos in die Höhe schnellen lassen würde. Es ist, Sie ahnen, es, verehrte Leserinnen und Leser, das explizite Recht auf Laden. Übrigens, Deutschland hat genau das bereits 2020 erfolgreich umgesetzt, wenn auch mit einem furchtbar komplizierten Namen mit satten 37 Zeichen – Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz.
Die Schweiz. Ein Land von Mieterinnen und Mietern.
Aber warum ist ein Recht auf Laden für die Schweiz von solch grosser Bedeutung? Nun, wir sind immer noch ein Land von Mieterinnen und Mietern. Daran haben auch die rekordtiefen Zinsen der letzten Dekade nichts geändert. Über 60 % bezahlen jeden Monat mehr oder weniger pünktlich ihren Mietzins an die Hauseigentümer.
Nationalrat Jürg Grossen von den GLP hat die Zeichen der Zeit erkannt. Und zwar bereits Anfang 2021. Seine Motion 21.3371 «Mieterinnen und Mieter sollen Elektroautos laden können», nachzulesen hier, wurde am 19.3.2021 eingereicht. Status: im Rat noch nicht behandelt. Die Antwort des Bundesrats auf die Motion 21.3371?
Der vorgeschlagene Weg über eine Anpassung des Mietrechts und des Rechts der Stockwerkeigentümerschaft in Form von neuen zwingenden Vorschriften stellt einen Eingriff in das Privatrecht und die Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) dar, dessen Verhältnismässigkeit noch vertieft geprüft werden müsste.
Der Hinweis, dass die «Verhältnismässigkeit noch vertieft geprüft werden müsste», lässt im Hinblick auf eine zeitnahe Umsetzung der Motion und die Einführung eines rechtlichen Anspruchs für das Laden zu Hause nichts Gutes erahnen.
Die über 56 % der Schweizerinnen und Schweizer, die sich ein E-Auto kaufen möchten und nicht das Privileg haben, in einem Einfamilienhaus zu wohnen, sind wohl noch für längere Zeit auf den guten Willen der Verwaltungen angewiesen.